1.1 Die Kunst des Unterlassens

04.03.2024


Auf dem Internistenkongress 2015 referierte der Medizinethiker Giovanni Maio über die „ärztliche Kunst des Seinlassens“. Die Herausforderung besteht darin, ein angemessenes Gleichgewicht und ein gesundes Maß in der Medizin zu finden. 
Mit fortschreitenden Entwicklungen in Diagnostik und Therapie steigt das Risiko einer unnötigen Überversorgung. Oft wird eher der Weg des Handelns als des bewussten Nicht-Handelns gewählt, selbst wenn letzteres vorteilhafter für den Patienten sein könnte. Das Ziel ist nicht, die verfügbaren medizinischen Möglichkeiten generell in Frage zu stellen, sondern darauf hinzuweisen, dass sie gezielt und ausgewogen eingesetzt werden sollten. 

Das richtige Maß finden
Eine Krankheitserfahrung geht oft mit einer tiefgreifenden Verunsicherung und einer Unterbrechung der alltäglichen Normalität einher, was beim Patienten den Wunsch nach Klarheit und Ordnung verstärkt. In dieser Situation kann aktives ärztliches Handeln beruhigend wirken, da es dem Gefühl der Hilflosigkeit entgegenwirkt. Ärztliche Maßnahmen, Tests oder Diagnostik können den Eindruck vermitteln, dass die Situation aktiv angegangen wird. 
Es geht jedoch darum, das richtige Maß an Handlung zu finden und nicht nur zu handeln, sondern auch durch Zuhören, Sprechen und Erklären den Patienten zu unterstützen.

Gefahr der Überdiagnostik
Die Betonung sollte auf individueller, qualitativ hochwertiger Versorgung liegen, nicht auf undifferenzierten Behandlungen. Eine sorgfältige, patientenzentrierte Herangehensweise ist entscheidend. Erfahrene Ärzte nutzen ihr Wissen und ihre Intuition effektiver als zahlreiche Tests.

Eine Fokussierung auf messbare Befunde kann zur Überdiagnostik führen und die Bedeutung des direkten Patientenkontakts mindern. Es ist wichtig, relevante Informationen aus der Beobachtung und Befragung des Patienten zu gewinnen, um eine ganzheitliche Behandlung zu ermöglichen.

Problem Zeitmangel
Zeitmangel führt oft zu schneller, umfassender Diagnostik anstelle einer gründlichen Erstuntersuchung. Dies kann zu ineffizienter Diagnostik führen. Für eine qualitativ hochwertige Versorgung sind ärztliche Sorgfalt, Ruhe und Reflexion unerlässlich.

Fazit
Die moderne Medizin neigt dazu, die ärztliche Kunst durch Technologie zu ersetzen, was den direkten Patientenkontakt potenziell entwertet. Gleichwohl ermöglicht die rasante technologische Entwicklung fortlaufend verbesserte Behandlungsmöglichkeiten. Ärzte sollten ihre Kernkompetenzen und ihre Motivation, ihren Patienten zu helfen, betonen. Eine gute medizinische Versorgung erfordert Zeit und eine individuelle Betrachtung des Patienten.

Weiterführende Informationen:
Giovanni Maio - Die verlorene Kunst des Seinlassens