Was bedeutet „krank sein“?
Wann ist ein Kind tatsächlich krank? Wenn es Symptome hat? Wenn sein Allgemeinzustand beeinträchtigt ist? Oder erst wenn medizinisches Handeln erforderlich wird? Bei wem ist es gerechtfertigt, dass wir uns um die individuellen Patienten sorgen? Wer bleibt zur Sicherheit daheim? Bis zu welchem Grad wollen wir die Gemeinschaftseinrichtungen frei von infektiösen Kindern halten? Und wann rechtfertigt die medizinische Beurteilung die entstehende soziale Einschränkung nicht mehr?
In der Welt der Kinder- und Jugendmedizin gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, was es bedeutet, wenn ein Kind krank ist. Es ist wichtig, zwischen kranken und infektiösen Kindern zu unterscheiden – sei es offensichtlich oder nur potenziell.
Als Kinder- und Jugendarzt sowie als Vater bevorzuge ich eine pragmatische Betrachtungsweise. Ein Kind sollte dann als „krank“ angesehen werden, wenn sein Allgemeinzustand offensichtlich beeinträchtigt ist. Dabei stehen nicht nur die physischen Symptome im Vordergrund. Vor allem das Wohlbefinden und Verhalten des Kindes sind wichtige Indikatoren für seinen Gesundheitszustand. Ein Kind, dem es nicht gutgeht, hat zumeist einen erhöhten Betreuungsbedarf und zieht sich von Aktivitäten zurück, die es normalerweise gerne ausübt.
Wieviel Infekt ist normal?
Während der Infektionssaison haben manche Kinder nahezu ununterbrochen leichte Symptome wie Schnupfen oder Husten, ohne dabei wirklich beeinträchtigt zu sein.
Für einige Familien sind diese konstanten, milden Symptome aber ein Anlass zur Sorge, andere Eltern sehen darin wieder ein Zeichen der Robustheit ihres Kindes.
Vor allem kleine Kinder sind sehr häufig krank. Es ist normal, dass ein sonst gesundes Kind im KiTa-Alter pro Jahr bis zu zehn fieberhafte Infekte durchmacht. Oft werden die Infekte nicht mehr einzeln wahrgenommen, da sie nahtlos ineinander übergehen. In der Regel handelt es sich um banale Virusinfekte, die mit Symptomen wie Fieber, Ausschlag, Husten, Schnupfen, Ohrenschmerzen, Halsschmerzen, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen oder Durchfall einhergehen können.
Harmlose oder schwere Infektion?
In der pädiatrischen Notfallmedizin stehen Ärzte häufig vor der Herausforderung, zwischen einer harmlosen, selbstlimitierenden Infektion und einer beginnenden schweren Erkrankung zu unterscheiden. Besonders komplex wird diese Aufgabe bei unspezifischen Symptomen wie Fieber, Husten oder allgemeinem Unwohlsein. In solchen Fällen stellt sich die Frage, welche Kinder nur beobachtet und welche weiter abgeklärt werden müssen.
Symptome sehr ähnlich
Die physiologische Reaktion eines gesunden Kindes auf ein virales Syndrom und eine beginnende Bakteriämie kann anfangs oft identisch sein. Virusinfektionen können das Immunsystem schwächen und dadurch bakterielle Superinfektionen begünstigen, die in seltenen Fällen zu einer Sepsis führen können. Dennoch sind schwere bakterielle Infektionen – insbesondere bei Kindern über drei Monaten – selten. Tatsächlich erkranken weniger als 7 % der Kinder an einer schweren bakteriellen Infektion.
Fieber beeinflusst häufig die Entscheidungsfindung, da es mit Tachykardie, veränderter peripherer Durchblutung und verminderter Aktivität einhergehen kann. Es ist jedoch wichtig, nicht nur das Fieber selbst zu betrachten, sondern auch das Verhalten und die Aktivität des Kindes.
Behandeln und Reevaluieren
In der Praxis wird daher häufig die Strategie „Behandeln und Reevaluieren“ verfolgt. Dabei wird dem Kind ein fiebersenkendes bzw. schmerzstillendes Mittel verabreicht und beobachtet, ob sich die Vitalzeichen bessern und sich das Verhalten des Kindes wieder normalisiert. Auf diese Weise kann zwischen einer physiologischen Reaktion auf eine harmlose Infektion und Anzeichen einer schweren Erkrankung unterschieden werden.
Verhalten des Kindes
Das Verhalten des Kindes ist oft der beste Indikator für den Schweregrad einer Erkrankung. Ein Kind, das trotz Fieber normal isst, spielt und sich normal verhält, ist in der Regel nicht ernsthaft krank. Ein Kind, dessen Vitalzeichen sich nach der Behandlung von fiebersenkenden Medikamenten wieder normalisieren und das aktiv bleibt, benötigt in der Regel keine invasive Diagnostik.
Biomarker
Ein weiterer Ansatz zur Entscheidungsfindung ist die Verwendung von Biomarkern wie CRP oder Procalcitonin, um eine schwere bakterielle Infektion auszuschließen. Der Einsatz dieser Biomarker ist jedoch insbesondere bei älteren Kindern (über 3 Monaten) nicht immer sinnvoll, da er häufig zu Überdiagnosen und unnötigen Behandlungen führt. Studien haben gezeigt, dass die klinische Entscheidungsfindung allein in vielen Fällen sicherer und effizienter ist als der Einsatz von Biomarkern.
Generell gilt: Die Vermeidung unnötiger Diagnostik und Übertherapie sollte im Vordergrund stehen, um sowohl dem Kind als auch dem Gesundheitssystem unnötige Belastungen zu ersparen.
Weiterführende Informationen:
Roland, D., Horeczko, T., & Snelson, E. (2024). Not too sick, not too well: reducing the diagnostic void in pediatric emergency medicine. Pediatric Research, Nature Publishing Group.