Weinen als Kommunikation
Das Weinen ist für den Säugling ein grundlegendes Kommunikationsmittel. Ein Säugling weint, um seine Bedürfnisse wie Hunger, Müdigkeit oder den Wunsch nach Nähe zu signalisieren. Weinen kann aber auch ein Indikator für Unwohlsein oder Schmerz sein.
Wie oft weinen Säuglinge?
Im Laufe der ersten Lebensmonate zeigt sich ein typisches Muster: Nach der Geburt nimmt die Häufigkeit des Weinens zu, erreicht zwischen der sechsten und achten Woche einen Höhepunkt und verringert sich dann bis zum Ende des dritten Monats. Durchschnittlich weinen Babys in dieser Zeit etwa 2,2 Stunden täglich.
Abb. Tägliches Schreien in Stunden (Brazelton 1962)
Exzessives Schreien
Exzessives Schreien wurde früher nach der traditionellen „Dreierregel“ beurteilt: Exzessives Schreien bedeutete, dass ein Säugling an mindestens drei Tagen pro Woche für mehr als drei Stunden täglich und über einen Zeitraum von mindestens drei Wochen exzessiv schreit.
Heutzutage konzentriert sich die Beurteilung von exzessivem Schreien mehr auf die individuellen Verhaltensweisen des Kindes und die Wahrnehmung der Eltern. Es wird berücksichtigt, wie stark das Schreien die Familie belastet und inwieweit die Eltern das Schreien trotz ihrer Bemühungen nicht beruhigen können. Dieses Verständnis erkennt an, dass exzessives Schreien oft unvorhersehbar auftritt und durch die Eltern nur schwer zu beeinflussen ist. Dadurch wird die individuelle Natur des Weinens hervorgehoben und die elterliche Erfahrung und Wahrnehmung in den Fokus der Beurteilung gerückt.
Warum schreit das Kind?
Das Kind ist nach monatelangem Schutz im Mutterbauch der weiten, großen Welt ausgesetzt und muss sich nun erst einmal zurechtfinden. Häufig scheint vermeintlich alles getan, was zum Wohlbefinden des Kleinen beitragen sollte: Das Kind ist satt, die Windeln sind frisch – doch es schreit. Es kann nicht beruhigt werden, oft zunehmend in den Abendstunden. Wir machen es uns häufig zu einfach, indem wir uns das pauschal als Bauchschmerzen erklären und hiergegen helfen möchten. Wahrscheinlich ist das Problem noch sehr viel komplexer.
Zusammenfassend kann man es als (normale) Regulationsstörung meist der ersten 3 Monate bezeichnen. Man stelle sich einen Jetlag vor, der in diesem Fall seinen Höhepunkt i.d.R. mit 6 Wochen erreicht hat und sich erst nach 3 Monaten deutlich bessert. Das Kind muss erst einmal ankommen. Es weiß selbst zum Teil noch gar nicht konkret, was sein Problem ist, sodass auch die Eltern nicht den Anspruch an sich erheben müssen, die Ursache herauszufinden.
Was tun?
Das Kind braucht Geborgenheit
Oft reicht es, dem Kind Nähe und Geborgenheit zu bieten, am besten in einem abgedunkelten Raum, wo es nicht permanent von neuen Reizen überflutet wird. Also im Grunde das Gegenteil von dem, wozu man als Eltern häufig verleitet ist: ständiges Hin- und Herwippen, neue Reize bieten (Schlüssel, Rassel, etc.), den Ort von A nach B nach C wechseln. Das Kind sollte vielmehr abgeschirmt werden von diesen Reizen, um zur Ruhe zu kommen.
Eltern müssen auch auf sich achten
Eltern müssen auf ihre eigene Gesundheit und ihr Wohlbefinden achten. Die Absprache mit dem Partner ist wichtig. Kräfte sollten sinnvoll eingeteilt werden. Regelmäßige Auszeiten und (familiäre oder professionelle) Unterstützungsangebote sollten in Anspruch genommen werden.
Wenn es gar nicht mehr anders geht, darf das Kind auch mal kurz allein an einem sicheren Ort im Zimmer schreien, sodass man als Eltern für einen Moment durchschnaufen kann. Gegebenenfalls kann in diesem Moment auch Hilfe geholt werden.
Hinweis: Eltern dürfen primär auch an sich denken. Man erinnere sich an das Flugzeug, in dem die Sauerstoffmasken herunterfallen und die Eltern gebeten werden, erst sich selbst zu versorgen und dann erst das Kind. Für das Kind ist es notwendig, dass Eltern auch auf sich achten.
Aktuelle Empfehlungen
Bei der Behandlung von exzessivem Schreien bei Säuglingen weisen medikamentöse, ernährungsbezogene und komplementärmedizinische Interventionen allenfalls eine begrenzte Wirksamkeit auf (Biagoli E. et al., 2016). Daher empfehlen aktuelle Richtlinien und Expertenmeinungen keine umfangreichen medikamentösen oder speziellen Ernährungsinterventionen bei gesunden Säuglingen, die exzessiv weinen.
Häufig verschriebene Medikamente, wie jene mit dem Wirkstoff Simeticon, haben sich in Studien als nicht effektiver als Placebos erwiesen. Ähnlich gibt es keine ausreichenden Belege dafür, dass eine allergenarme Ernährung der Mutter einen signifikanten Einfluss auf das Schreiverhalten gestillter Babys hat.
Neuere Ansätze wie die Verwendung probiotischer Bakterien (z.B. Lactobacillus reuteri) wurden aufgrund einiger vielversprechender, aber methodisch fragwürdiger Studien vorgeschlagen. Jedoch haben unabhängige Überprüfungen keine eindeutigen Vorteile dieser Behandlungsmethode gezeigt.
Medikamentöse Therapie
Folgende gängige Medikamente werden eingesetzt, um den vermeintlichen Bauchschmerzen entgegenzuwirken:
- Simeticon-Tropfen: Sie werden zu den Mahlzeiten gegeben und sollen die Luft im Bauch entweichen lassen. Ob die Schmerzen tatsächlich durch die Luft im Bauch bedingt sind oder die Luft eher durch das Schreien erst hineingekommen ist, bleibt fraglich.
- homöopathische Kümmelzäpfchen: Sie werden als natürliches Arzneimittel angepriesen und sollen entblähend und entkrampfend wirken. Offensichtlich ist es primär die Manipulation am Po, die Effekte zeigt.
- Probiotika: Sie sollen den Aufbau der Darmflora unterstützen und somit gegen Bauchschmerzen wirken.
Eltern geben recht unterschiedliche Rückmeldungen über die Erfolge der jeweiligen Mittel. Offenbar werden durch die Gabe der verschiedenen Medikamente die 3 Monate überbrückt, sodass am Ende das Gefühl entsteht, eines davon habe geholfen. Schließlich sind es die Zeit und der natürliche Verlauf der Dinge, die es richten.
Psychoedukative Unterstützung
Eine zentrale Rolle bei der Bewältigung des exzessiven Schreiens spielt die psychoedukative Unterstützung der Eltern. Die Eltern müssen umfassend über die Natur des Säuglingsschreiens aufgeklärt werden und verstehen, dass das Weinen häufig kein Anzeichen von Krankheit, sondern ein normaler Teil der kindlichen Entwicklung ist. Dadurch können eventuelle Schuldgefühle der Eltern verringert werden.
Praktische Tricks
Eltern sollten auch im praktischen Umgang mit einem häufig weinenden Baby beraten werden. Hierzu gehören die Etablierung von regelmäßigen Routinen, das Erkennen von Müdigkeitssignalen des Kindes und Techniken, um das Baby zu beruhigen.
Sollte sich tatsächlich vermehrte Luft im Bauch oder Pressen beim Säugling als Hauptproblem erscheinen, gibt es einige praktische Handlungsanweisungen:
- Achten auf die richtige Still- und Fütterungstechnik
- Ansatz der Lippen: Wenn die Babys mit ihren Lippen den Warzenhof oder den Sauger bei Saugen weit und fest umschließen, wird das Schlucken von Luft minimiert. Man kann sanft auf die Wangen des Babys drücken, um den Mund kurzzeitig zu öffnen, sodass die Brustwarze oder der Sauger besser gegriffen werden können.
- aufrechte Fütterungsposition: Der Po des Säuglings wird auf den elterlichen Schoß gesetzt und der Rumpf durch den elterlichen Arm ordentlich gestützt. Diese Technik unterstützt das Entweichen geschluckter Luft.
- Fliegergriff: Er ist beruhigend und bietet eine Kombination aus Körpernähe, Wärme, sanften, wiegenden Bewegungen und Bauchmassage. Das Baby wird bäuchlings auf dem Unterarm getragen und fühlt sich dadurch geborgen. Zusätzlich fördert dieser Griff die Darmmotilität und die Entleerung von Stuhl und Gasen, da das Kind kreisende Bewegungen im Becken durchführen und die Beinpresse anwenden kann.
- Förderung der Körperwahrnehmung des Babys: Seine motorische Entwicklung wird gefördert und das Körpergefühl gestärkt, wenn man die Hände des Babys sanft zur Mitte führt, damit das Kind seinen eigenen Körper berühren kann.
- Kinästhetik: Ergänzend dazu empfiehlt sich die Anwendung kinästhetischer Methoden, die sich auf natürliche und entwicklungsfördernde Bewegungsmuster konzentrieren. Man geht mit den natürlichen Bewegungen des Kindes mit und achtet darauf, das Baby stammbetont zu unterstützen, anstatt an Armen und Beinen zu ziehen. Diese Herangehensweise respektiert die Eigenbewegungen des Babys und fördert eine harmonische motorische Entwicklung, ohne das Kind zu überfordern. Kinästhetische Bewegungsabläufe, wie sanftes Schaukeln, Rollen oder leichte Massagen, tragen zur Entwicklung des kinästhetischen Bewusstseins und der Motorik des Babys bei und unterstützen das Gleichgewichtsgefühl sowie das allgemeine Wohlbefinden des Kindes.
Förderung der Interaktion
Wenn die Unruhe des Kindes über den dritten Lebensmonat hinaus anhält, steigt das Risiko für spätere psychische Störungen. In diesen Fällen ist eine interaktionszentrierte Behandlung zur Förderung einer gesunden Eltern-Kind-Beziehung angezeigt. Hierbei können spezialisierte Dienste wie „Frühe Hilfen“, kinderpsychiatrische und psychotherapeutische Angebote sowie die Unterstützung durch Hebammen und spezialisierte Ambulanzen wertvolle Beiträge leisten.
Psychosoziale Unterstützung
Bei zusätzlichen elterlichen Problemen sollten adäquate psychosoziale oder psychotherapeutische Maßnahmen erwogen werden, um das Wohlergehen des Kindes und der Familie insgesamt zu unterstützen.
Weiterführende Informationen: