Natürliches Essverhalten
Regulation von Hunger und Sättigung
Das Essverhalten wird durch interne Prozesse gesteuert, die das Gleichgewicht des Energiehaushalts im Körper wahren. Bei einem erhöhten Energiebedarf wird der Appetit angeregt. Nach ausreichender Nahrungsaufnahme senden Hormone und das Nervensystem Signale aus, die das Essen begrenzen. Diese Mechanismen tragen dazu bei, sowohl langanhaltende Nahrungsknappheit als auch das Risiko von Übergewicht zu vermeiden.
Natürliche Selbstregulation
Studien belegen, dass bereits Säuglinge im Alter von 2 Tagen nach dem Stillen ein geringeres Interesse an weiterer Milch zeigen. Dieses Verhalten weist auf die Fähigkeit zur Selbstregulation ihrer Nahrungsaufnahme hin, ähnlich der Regulation des Schlafes. Gesunde Kinder, die entlang der normalen Wachstumskurven wachsen, decken in der Regel ihren Energie- und Nährstoffbedarf durch diese natürliche Selbstregulation und die Aufnahme angemessener Nahrungsmengen.
Phasen der Ernährung
Während der ersten zwei Lebensjahre erlebt die Ernährung eines Kindes drei entscheidende Phasen. Zunächst steht flüssige Nahrung (Stillen oder Flaschenfütterung) im Vordergrund. Dieser Abschnitt wird von einer Übergangszeit abgelöst, in der Brei die Hauptnahrungsquelle bildet. Schließlich erfolgt die allmähliche Umstellung auf eine an Kinder angepasste Erwachsenenkost. Herausforderungen wie Trinkschwächen oder der Übergang von Milch zu Brei sind dabei häufige Themen in der Kinderarztpraxis.
Kulturelle Einflüsse
Die Entwicklung eines Kindes wird stark von kulturellen Normen und Traditionen beeinflusst, insbesondere in den frühen Lebensjahren. Schlaf- und Fütterungsrituale unterscheiden sich erheblich, je nach kulturellem und geografischem Kontext. Zum Beispiel praktizieren einige Kulturen das Vorkauen der Nahrung für Säuglinge, während andere dies aus hygienischen Gründen vermeiden. Während in manchen Kulturen Kinder beim Essen getragen werden, sitzen sie in anderen in Hochstühlen. Diese kulturelle Diversität zeigt die Anpassungsfähigkeit von Kindern auf und verdeutlicht, dass starre, universelle Richtlinien für das Essverhalten nicht immer angebracht sind.
Geschmacksentwicklung
Obwohl die Sinneswahrnehmung in diesem frühen Alter bisher nicht voll ausgereift ist, sind Säuglinge und Kleinkinder dennoch in der Lage, sich an unterschiedliche Geschmacks- und Geruchsrichtungen zu gewöhnen. Die Ernährung von schwangeren oder stillenden Müttern hat Einfluss auf den Geschmack der Muttermilch, was wiederum die Geschmackspräferenzen des Kindes prägt. So zeigen gestillte Kinder oft eine größere Offenheit für neue Lebensmittel als flaschenernährte Kinder. Dies ermöglicht Eltern, ihre Kinder frühzeitig an eine gesunde und vielfältige Ernährung zu gewöhnen.
Essgewohnheiten
Die inneren Belohnungssysteme, die eine wichtige Rolle bei der Ausbildung von Vorlieben für bestimmte Nahrungsmittel spielen, sind in den ersten zwei bis drei Lebensjahren bislang nicht vollständig entwickelt. Diese Systeme beginnen erst später, die Essgewohnheiten entscheidend zu beeinflussen.
Wählerisches Essen ist ein häufiges Phänomen im Kleinkindalter, bei dem Kinder dazu neigen, unbekannte Nahrungsmittel abzulehnen. Diese selektive Essweise, besonders gegenüber bitteren und sauren Lebensmitteln, wird als evolutionärer Schutzmechanismus interpretiert. Sie dient dazu, das Kind vor potenziell gefährlichen Nahrungsmitteln zu schützen, bis es ein Verständnis für Nahrungsmittelunverträglichkeiten entwickelt. Etwa die Hälfte aller Kleinkinder essen zeitweise wählerisch, insbesondere im frühen dritten Lebensjahr. Dieses Verhalten nimmt meist bis zum Schulalter allmählich ab.
Füttern des Kindes
Im ersten Lebensjahr ist das Zusammenspiel von kindlicher Nahrungsaufnahme und elterlicher Fütterung besonders wichtig. Säuglinge verbringen in dieser Zeit einen erheblichen Anteil ihrer Wachstunden mit dem Essen, was eine wesentliche Gelegenheit für die Entwicklung ihrer Autonomie und sozialen Interaktion darstellt. Die intuitive Rolle der Eltern beim Füttern ist entscheidend. Eine Diskrepanz zwischen dem Fütterverhalten der Eltern und den Bedürfnissen des Kindes kann nicht nur zu Spannungen in der elterlichen Beziehung führen, sondern auch Auffälligkeiten im Essverhalten des Kindes nach sich ziehen.
Fütterstörung
Die Ernährung ihres Babys ist für eine Mutter von grundlegender Bedeutung. Unsicherheiten oder das Gefühl des Versagens beim Füttern können tiefgreifende Auswirkungen auf ihr Selbstbild und die Beziehung zum Kind haben. Beim Thema Essen und Füttern steht emotional viel auf dem Spiel, vorwiegend das Wohlbefinden und Überleben des Kindes.
Auffälliges Essverhalten
Kinder zwischen 0 und 3 Jahren zeigen Auffälligkeiten im Essverhalten, wenn sie die Löffelfütterung verweigern, das Essen nur unter Ablenkung zu sich nehmen oder eine sehr selektive Nahrungsauswahl haben.
Auswirkungen
Mahlzeiten sollten freudige und soziale Anlässe sein. Doch wenn Kinder ohne medizinischen Grund nicht essen, können diese Momente emotional belastend werden.
Dysfunktionale Fütterinteraktionen können vielfältige Auswirkungen haben: Bei Kindern manifestieren sie sich beispielsweise in Nahrungsverweigerung und in der Folge mit Entwicklungsproblemen. Bei Eltern können sie zu einem niedrigen Selbstwertgefühl führen und in der Interaktion selbst zu Zwangssituationen. Dies kann zu einer Verstärkung von Spannungen sowohl beim Kind als auch bei den Eltern führen. Solche problematischen Esssituationen können tiefere elterliche Belastungen und Konflikte widerspiegeln, weswegen die Inanspruchnahme psychotherapeutischer Hilfe notwendig und hilfreich sein kann.
Häufigkeit
Etwa 2–5 % dieser Altersgruppe leiden unter klinisch signifikanten Ess- oder Fütterstörungen, und ungefähr 0,5 % müssen wegen solcher Probleme hospitalisiert werden. Gedeihstörungen, bedingt durch unzureichende Kalorienaufnahme, betreffen 3–4 % der Kinder in dieser Altersgruppe.
Diagnose Fütterstörung
Die Diagnose einer Fütterstörung wird gestellt bei anhaltender Problematik beim Füttern oder der Verweigerung von Nahrung über einen Zeitraum von mehr als einem Monat, ohne dass eine offensichtliche medizinische Ursache vorliegt oder eine Besserung durch medizinische Betreuung erkennbar ist.
Die Störung beginnt vor dem Alter von 2 Jahren und die ärztliche Diagnose wird vor dem Alter von 6 Jahren gestellt. Zusätzlich wird das Auftreten von pathologischem Fütterverhalten oder Würgen und Erbrechen bereits im Vorfeld des Essens als mögliche Schutzreaktion des Körpers berücksichtigt.
Pathologisches Fütterverhalten
Pathologisches Fütterverhalten kann vielfältige Formen annehmen, wie nächtliches Füttern, kontinuierliches Füttern, Füttern unter Druck oder Zwang, mechanisches Füttern nach festen Regeln oder Ablenkungsstrategien während des Essens. Liegen diese Verhaltensweisen vor und werden sie durch zusätzliche Symptome wie antizipatorisches Würgen und Erbrechen ergänzt, wird von einer behandlungsbedürftigen Störung ausgegangen.
Formen der Fütterstörung
In der klinischen Praxis werden verschiedene Typen von Fütterstörungen unterschieden:
- Fütterstörung mit Beeinträchtigung der homöostatischen Regulation
- Fütterstörung mit unzureichender Eltern-Kind-Reziprozität
- infantile Anorexie
- sensorisch bedingte Nahrungsverweigerung
- funktionelle Dysphagie
- emotionale Störung mit Nahrungsvermeidung
Beeinträchtigung der homöostatischen Regulation
Diese Fütterstörung tritt oft in den ersten acht Lebenswochen auf. Die betroffenen Kinder kämpfen damit, während des Trinkens wach zu bleiben und einen regelmäßigen Essrhythmus zu entwickeln. Dies kann bei unerfahrenen Eltern zur Verunsicherung führen. Wird die Störung frühzeitig erkannt und behandelt, sind die Erfolgsaussichten gut.
Eltern lernen, die Hunger- und Sättigungssignale ihres Kindes richtig zu deuten und darauf einzugehen. Empfehlenswert sind:
- eine ruhige, entspannte Fütterungsumgebung
- regelmäßiger Positionswechsel des Kindes während des Fütterns
- kurze Dauer der Mahlzeit
- Pausen während des Fütterns einlegen (unterstützt Wachheit der Kinder und verhindert deren Überforderung)
- Stressreduktion bei den Eltern (für eine entspanntere Fütterungssituation)
Unzureichende Eltern-Kind-Reziprozität
Hier haben Kinder trotz ausreichender Verfügbarkeit von Nahrung Schwierigkeiten, genug zu essen oder zu trinken, was zu Gedeihstörungen führen kann. Oft zeigen diese Kinder distanziertes, kraftloses oder abweisendes Verhalten, wenn sie gehalten werden. Solche Verhaltensweisen können auf unerfüllte emotionale oder physische Bedürfnisse hinweisen. Faktoren wie familiärer Stress, mütterliche Depression, soziale Herausforderungen oder Vernachlässigung können diese Probleme verschärfen.
Infantile Anorexie
Sie tritt häufig in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres auf und ist eng mit der Autonomieentwicklung des Kindes verknüpft. Diese Störung ist ebenfalls mit Gedeihstörungen verbunden. Die Symptome beginnen typischerweise nach einer Veränderung in der Ernährung, wie dem Übergang zu Fingerfood. Kinder mit dieser Störung zeigen oft erhöhte Neugier und Ablenkbarkeit und sind während der Mahlzeiten mehr an ihrer Umgebung als am Essen interessiert. Elterliche Versuche, das Kind durch Ablenkungen zum Essen zu animieren, können manchmal kontraproduktiv sein.
Wichtig: Die infantile Anorexie ist nicht mit Anorexia nervosa im Jugendalter gleichzusetzen! Bei der Anorexia nervosa steht die Angst vor einer Gewichtszunahme im Vordergrund.
Sensorisch bedingte Nahrungsverweigerung
Hier entwickeln die Kinder dauerhafte Abneigungen gegen bestimmte Lebensmittel oder Inhaltsstoffe. Dies kann auf eine erhöhte Sensibilität der Geschmacks- und Tastrezeptoren in der Mundhöhle zurückzuführen sein, die eine intensivere Wahrnehmung von Geschmack, Konsistenz und Form bewirkt.
Funktionelle Dysphagie
Es handelt sich um eine Art konditionierte oder posttraumatische Fütterstörung, bei der Kinder Schwierigkeiten beim Essen oder Schlucken aufgrund unangenehmer Erfahrungen entwickeln. Solche Erfahrungen können Schmerz oder Zwang beim Füttern mit der Flasche oder medizinische Eingriffe wie das Legen einer nasogastralen Sonde sein. Kinder mit dieser Störung zeigen oft Angst beim Füttern oder beim Anblick der Flasche. Die Angst kann sich im Halbschlaf reduzieren. Ein empathischer und geduldiger Umgang seitens der Eltern und Betreuenden ist entscheidend, um das Vertrauen des Kindes in die Nahrungsaufnahme wiederherzustellen.
Emotionale Störung
Hier vermeiden die Kinder aus emotionalen Gründen Nahrung. Die Gründe dafür sind vielfältig und oft in familiären Belastungen verwurzelt. Manchmal konzentriert sich die Angst eines Kindes auf ein bestimmtes Nahrungsmittel, was auf emotionale Ereignisse zurückgeführt werden kann. Im Gegensatz zu konditionierten Fütterstörungen, die durch Schmerz ausgelöst werden, stehen hier psychologische Faktoren im Vordergrund, sowohl beim Kind als auch bei den Eltern. Mütterliche Angst- und Zwangsstörungen sowie aktuelle familiäre Belastungen können ebenfalls einen Einfluss auf das Essverhalten des Kindes haben.
Fazit
Fütter- und Essstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter sind relativ häufig. Oft sind sie selbstlimitierend, insbesondere wenn sie frühzeitig erkannt und Familien entsprechend aufgeklärt und unterstützt werden. Kinderärzte spielen hierbei eine entscheidende Rolle, indem sie Eltern beruhigen und über die Vielfalt des kindlichen Essverhaltens und die normale Gewichtsentwicklung aufklären.
Die Unterscheidung zwischen Störungen mit und ohne Gedeihstörung ist wichtig, da diese unterschiedliche Auswirkungen auf das Kind, die Bezugspersonen und die Interaktion haben können. Die Behandlung von klinisch relevanten Störungen erfordert erfahrene Fachkräfte und bei schweren Fällen ein multidisziplinäres Team, das auch die psychische Verfassung der Eltern berücksichtigt und gegebenenfalls behandelt.
Weiterführende Informationen: