7.9.2 Enuresis

25.06.2024


Ursachen
Die Ursachen für die nächtliche Enuresis sind vielfältig. Selten ist sie jedoch organisch bedingt. Eine starke familiäre Neigung ist erkennbar: Wenn ein Elternteil betroffen war, beträgt das Risiko für das Kind 44%. Bei zwei betroffenen Elternteilen steigt das Risiko auf 77 %. Spezifische genetische Marker wurden identifiziert, was auf eine genetische Komponente hinweist. Kinder aus Familien ohne Enuresis-Vorgeschichte haben ein Risiko von etwa 15 %.

Klinik
Viele Kinder mit Enuresis schlafen sehr tief und werden weder durch die zunehmende Blasenfüllung noch durch die Blasenentleerung geweckt. Dies deutet auf eine Störung im Aufwachprozess hin, wobei die Schlafarchitektur an sich normal ist. Einnässen kann in jeder Schlafphase auftreten, am ehesten noch im ersten Drittel der Nacht.

Diagnostik
Da die Enuresis selten auf organische Ursachen zurückzuführen ist, sollte die Diagnostik vorrangig nichtinvasiv und schonend sein.
Wichtig ist eine gute Anamneseerhebung. Erfragt werden weitere Symptome, Stressfaktoren und die Familiengeschichte. Unterstützt wird dies durch das Führen eines Blasentagebuchs über Trink- und Miktionsmengen (Aufzeichnung für wenige Tage). Darüber hinaus sollte für zwei Wochen ein Protokoll mit weiteren Angaben wie Einnässen, Stuhlgang und eventuell Einkoten erstellt werden.
Zur Basisdiagnostik zählen außerdem:

  • die symptombezogene körperliche Untersuchung
  • eine Urinuntersuchung mittels Streifentest
  • ggf. Ultraschalluntersuchung von Nieren, ableitenden Harnwegen und Rektum inklusive einer Restharnbestimmung nach der Miktion

Diese Maßnahmen sollten ausreichen, um eine organische Harninkontinenz auszuschließen.

Formen der Enuresis
Bevor eine Behandlung beginnt, wird unterschieden, welche Form der Enuresis vorliegt:

  • monosymptomatische Enuresis nocturna (MEN; besteht nur im Schlaf)
  • nicht-monosymptomatische Enuresis (Non-MEN; besteht zusätzlich auch tagsüber)

Bei Non-MEN mit Blasendysfunktion wird zuerst die Tagessymptomatik behandelt. Auch müssen Enuresis und Komorbiditäten wie ADHS oder Obstipation gleichzeitig beachtet und behandelt werden.

Was tun?
Urotherapie bildet die Grundlage der Enuresis-Behandlung. Diese umfasst alle konservativen, nicht-chirurgischen und nicht-pharmakologischen Behandlungsmethoden von Blasenfunktionsstörungen. Die Therapie basiert auf den Prinzipien der kognitiven Verhaltenstherapie und richtet sich sowohl an Kinder als auch an Eltern.
Die Bereitschaft des Kindes zur Mitarbeit ist Voraussetzung, damit mit der Behandlung begonnen werden kann.

Aufklärung
Die Urotherapie beginnt mit einer umfassenden Information über die Physiologie der Harnblase, die Entwicklung der Blasenkontrolle und die Ursachen des Einnässens. Ein wichtiger Teil ist die „Demystifikation“ des Einnässens. Eltern sollen verstehen, dass das Kind das nächtliche Einnässen nicht willentlich steuern kann und, dass das oft beobachtete „Desinteresse“ des Kindes eher Ausdruck von Resignation ist. Es soll verdeutlicht werden, dass weder Eltern noch Kinder Schuld an der Enuresis tragen. Eltern sollen ermutigt werden, ihre Kinder zu unterstützen und zu verstehen, dass es wirksame Behandlungskonzepte gibt. 

Trink- und Miktionsverhalten
Ein weiterer Bestandteil ist das Management des Trink- und Miktionsverhaltens. Durch ein Trink- und Miktionsprotokoll werden Trinkmuster analysiert. Die Flüssigkeitsaufnahme sollte über den Tag verteilt werden. Bewährt hat sich die sog. „Siebenbecherregel“, bei der über den Tag verteilt insgesamt sieben Becher Flüssigkeit getrunken werden. Größere Mengen sollten dabei in der ersten Tageshälfte konsumiert werden, in den Abendstunden wird die Trinkmenge reduziert.

Das Miktionsverhalten ist ebenfalls ein wichtiger Faktor. Kinder, insbesondere diejenigen mit Non-MEN, sollten angehalten werden, bei Harndrang oder regelmäßig die Blase in entspannter Haltung und ohne Verzögerung zu entleeren.

Dokumentation
Mit einem „Sonne-Wolken-Kalender“ können trockene und nasse Nächte dokumentiert werden. Dies hilft, den Fortschritt zu visualisieren und kann motivierend wirken. Manche Kinder werden allein durch solche einfachen Maßnahmen nachts trocken. Die Dauer der Behandlung variiert, bei andauernden nassen Nächten kann die Kalenderführung nach 2 Wochen beendet und erst bei Verbesserung fortgeführt werden.

Hinweis: Wenn einfache Maßnahmen zur Behandlung von Enuresis nicht erfolgreich sind, stehen zwei evidenzbasierte Therapieformen zur Verfügung:

  • apparative Verhaltenstherapie
  • medikamentöse Therapie
    • Desmopressin
    • Anticholinergika (nur bei Non-MEN)

Apparative Verhaltenstherapie
Sofern Eltern und Kind einverstanden sind, ist die apparative Verhaltenstherapie mit einem Weckapparat die erste Behandlungsoption. Der Weckapparat ist entweder tragbar oder wird am Bett angebracht und soll das Kind durch Klingeln oder Vibration wecken.

Wirksamkeit
Langfristig gesehen ist diese Therapieform wirksamer als die Behandlung mit Desmopressin (insbesondere wenn Desmopressin nur für einen begrenzten Zeitraum von etwa 10–12 Wochen eingesetzt wird). Die apparative Verhaltenstherapie ist effektiv, wenn die Familie die Enuresis verstanden hat, motiviert ist und aktiv an der Behandlung teilnimmt. Sie wird nicht empfohlen für Kinder mit offensichtlichen Anzeichen einer Non-MEN und mehreren Einnässereignissen pro Nacht.

Voraussetzungen

  • ausführliche Beratung und Demonstration des Weckgeräts
  • Anwendungsdauer mindestens 2–3 Monate
  • Weckapparat sollte ohne Unterbrechung jede Nacht genutzt werden
  • Falls das Kind vom Geräusch des Weckapparats nicht selbst wach wird, muss es in der Anfangsphase von Mutter oder Vater vollständig geweckt werden und die Blase dann entleeren.

Wichtig: Da es sich bei der apparativen Verhaltenstherapie im Wesentlichen um eine operante Konditionierung handelt, ist es wichtig, dass das Kind positive Verstärkung (Lob, Freude) und auch aversive Elemente der Therapie (Aufstehen, Toilettengang, Wechsel der Wäsche) bewusst erlebt.

Therapiedauer
Die Therapie sollte fortgesetzt werden, bis das Kind 14 aufeinanderfolgende Nächte trocken bleibt, in der Regel nicht länger als 16 Wochen.
Eine Verlängerung kann sinnvoll sein, wenn sich eine Abnahme der Einnässfrequenz zeigt, auch wenn noch keine vollständige Trockenheit erreicht wurde. Sollte nach 6–8 Wochen keine Verbesserung eintreten, kann die Behandlung beendet oder um weitere verhaltenstherapeutische Elemente ergänzt werden. Ein Verstärkerplan und Arousal-Training können die Erfolgschancen erhöhen.

Arousal-Training
Beim Arousal-Training wird vereinbart, dass das Kind eine Belohnung erhält, wenn es nach dem Wecken innerhalb von 3 Minuten aufsteht, zur Toilette geht und aktiv kooperiert. Aktive Kooperation wird z.B. mit Stickern belohnt. Alternativ kann ein für jede Nacht neu festgelegtes Codewort, an das sich die Kinder am nächsten Morgen erinnern sollen, sinnvoll sein, um den Grad der Wachheit zu erhöhen.

Erfolgsaussichten
Bei der alleinigen Anwendung der apparativen Verhaltenstherapie erreichen 50–80 % der Kinder nach 8–10 Wochen Trockenheit. Mit Arousal-Training kann eine Erfolgsquote von bis zu 90 % erreicht werden. Rückfälle treten bei 15–30 % der Kinder innerhalb der ersten sechs Monate nach der Behandlung auf, wobei in diesen Fällen eine erneute Anwendung der Alarmtherapie empfohlen wird. Langfristig bleiben etwa 50 % der Kinder trocken, wobei etwa zwei Drittel der Kinder durchschlafen und ein Drittel rechtzeitig erwacht, um zur Toilette zu gehen. Dies gilt insbesondere für Kinder mit Non-MEN.


Desmopressin

Physiologie
Desmopressin ist ein synthetisch hergestelltes Protein und ahmt das natürliche Hormon Vasopressin (antidiuretisches Hormon = ADH) nach. Es resorbiert Wasser über Tunnelproteine in den Nieren zurück, wodurch sich die Harnausscheidung reduziert. Alkohol etwa hemmt ADH, weshalb man nach Alkoholkonsum vermehrt Urin ausscheidet.

Indikation
Desmopressin eignet sich, um kurzfristige Herausforderungen wie Klassenfahrten oder Urlaubsreisen zu bewältigen. Es sollte nicht als kuratives, sondern als symptomatisches Verfahren betrachtet werden.

Wichtig ist dabei, ein adäquates Trinkverhalten am Tag einzuhalten, abends nicht mehr als 250 ml zu trinken und nachts gänzlich aufs Trinken zu verzichten, um das Risiko einer Elektrolytstörung zu minimieren. 

Behandlungsdauer
Es kann maximal 3 Monate täglich eingenommen werden, danach sollte die Behandlung entweder beendet oder schrittweise reduziert werden. 

Erfolgsaussichten
Langfristig bleiben nach dem Absetzen von Desmopressin ein Viertel der Kinder trocken. 

Anticholinergika
Anticholinergika wie Oxybutynin oder Propiverin werden bei Non-MEN eingesetzt, insbesondere wenn Anzeichen einer überaktiven Blasendysfunktion vorliegen. Die Medikamente werden abends gegeben.
Bei MEN ist ihr Einsatz hingegen nicht ratsam.

Wirksamkeit
Nur bei etwa der Hälfte der Patienten tritt eine Besserung ein. Diese sollte nach 8 Wochen sichtbar sein.

Nebenwirkungen
Möglich sind Obstipation, Restharnbildung oder zerebrale Nebenwirkungen.

Therapiedauer
Wenn sich die Therapie als wirksam erweist, sollte sie für mindestens sechs Monate fortgesetzt und nicht abrupt beendet werden.

Hinweis: Bei Non-MEN-Patienten mit einer kleinkapazitären Blase kann eine Kombinationstherapie aus einem Anticholinergikum und apparativer Verhaltenstherapie (AVT) oder Desmopressin zum Einsatz kommen. Der Erfolg dieser Kombinationsbehandlungen hängt vom Grad der eingeschränkten Blasenkapazität ab. Eine eindeutige wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit dieser Kombinationsbehandlungen liegt bisher jedoch nicht vor.

Fazit
Die Behandlung von Ausscheidungsstörungen sollte in der richtigen Reihenfolge erfolgen: zuerst Darmentleerungsstörungen, dann Einnässen am Tag und zuletzt Einnässen in der Nacht.
Bei der Behandlung des Einnässens am Tag ist es wichtig, die spezifische Unterform zu identifizieren und gezielt zu behandeln. Dranginkontinenz kann in einigen Fällen mit Medikamenten behandelt werden, während bei Miktionsaufschub feste Zeiten für Toilettengänge hilfreich sein können. Dyskoordinierte Miktion kann mit Biofeedbackgeräten behandelt werden. Klingelgeräte, die als Teil einer apparativen Verhaltenstherapie eingesetzt werden, sollten nicht nur verschrieben, sondern auch in ihrer Anwendung gut angeleitet und mit dem Kind sowie seinen Eltern besprochen werden. Die Eigenmotivation des Kindes und die Fähigkeit der Familie, die Behandlung zu unterstützen, sind ebenfalls wichtige Aspekte für den Erfolg der Therapie.

Veraltete Praktiken sollten verlassen werden:

  • Das nächtliche Wecken von Kindern wird nicht mehr empfohlen. So lernen die Kinder nicht langfristig, von einer vollen Blase wach zu werden.
  • Strikte Flüssigkeitsrestriktion am Abend ist nicht hilfreich für die Behandlung des nächtlichen Einnässens. 
  • Propiverin wird bei nächtlichem Einnässen ohne Tagessymptomatik nicht empfohlen.
  • Psychotherapien, die sich ausschließlich auf die Suche nach Problemen konzentrieren, ohne am Symptom selbst zu arbeiten, sind nicht sinnvoll. Blasenretentionstraining, bei dem Kinder angewiesen werden, ihren Harndrang zu unterdrücken, ist nicht nützlich.

Weiterführende Informationen:

Consilium – Pädiatrie-Podcast: #29 „Nicht-organisches Einnässen am Tag und in der Nacht“ mit Dr. Ute Mendes

Leitlinie S2k: Enuresis und nicht-organische (funktionelle) Harninkontinenz bei Kindern und Jugendlichen