Mythos 1: Impfungen sind heute nicht mehr erforderlich
Die Meinung, dass Impfungen aufgrund guter Lebensbedingungen nicht mehr nötig seien, ist ein Mythos. Der Rückgang von Infektionskrankheiten wie Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten oder Poliomyelitis in entwickelten Ländern ist hauptsächlich auf effektive Impfprogramme zurückzuführen, nicht allein auf verbesserte Lebensbedingungen. Dieser Erfolg hat jedoch paradoxerweise dazu geführt, dass die Wichtigkeit von Impfungen in der öffentlichen Wahrnehmung abgenommen hat.
Trotz der Ausrottung der Pocken durch eine weltweite Impfkampagne sind viele Krankheiten, die durch Impfungen verhindert werden können (z.B. Masern), nicht vollständig eliminiert. Lokale Ausbrüche treten weiterhin auf, oft in Gemeinschaften mit niedrigen Impfraten. Die vollständige Eradikation solcher Krankheiten wäre möglich, wenn eine ausreichend hohe Durchimpfungsrate erreicht würde, idealerweise über 95%. Dadurch wird das Risiko einer Krankheitsübertragung verringert und die gesamte Bevölkerung geschützt.
Merke: Eine hohe Durchimpfungsrate ist entscheidend, um Herdenimmunität zu erzeugen und diejenigen zu schützen, die nicht geimpft werden können.
Mythos 2: Die Krankheit selbst zu durchleben, schützt besser als eine Impfung
Die Praxis einiger impfkritischer Gruppen, sog. „Masernpartys“ zu veranstalten, um Kinder „natürlich“ gegen Masern zu immunisieren, birgt erhebliche Risiken. Diese Eltern glauben fälschlicherweise, dass eine Infektion mit dem Wildvirus besser sei als eine Impfung. Tatsächlich ist jedoch eine Masernerkrankung weit riskanter als die Impfung:
Masern können zu schweren neurologischen Komplikationen führen. Bei etwa einem von 1000 erkrankten Kindern tritt eine Enzephalitis auf, die oft bleibende Schäden oder den Tod zur Folge hat.
Eine Enzephalitis nach einer Masernimpfung ist extrem selten. Die Häufigkeit wird auf etwa 1 Fall pro 1 Million Dosen der MMR-Impfung (Masern-Mumps-Röteln) geschätzt.
Eine besonders gefährliche, aber seltene (einer von 3000–10.000 Erkrankten) Komplikation der Maserninfektion ist die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE). Diese Komplikation wurde noch nie nach einer Impfung beobachtet.
Außerdem schwächt eine Maserninfektion das Immunsystem vorübergehend, was Kinder für andere Infektionen anfälliger macht. Im Gegensatz dazu kann die Masernimpfung das Immunsystem stärken.
Hinweis: Masern gehören laut Weltgesundheitsorganisation immer noch zu den häufigsten Todesursachen bei Kleinkindern, die durch Impfungen verhindert werden könnten.
Mythos 3: Impfrisiken und Nebenwirkungen sind nicht hinreichend bekannt
Der Mythos, dass Impfungen unsicher seien, ist falsch. Impfungen werden seit über 50 Jahren routinemäßig verabreicht und es gibt zahlreiche Studien, die ihre Wirksamkeit und Sicherheit belegen.
Moderne Impfstoffe, einschließlich solcher mit neuen Adjuvanzien, wurden in großen Studien mit über 100.000 Teilnehmern geprüft und zugelassen. Nach der Zulassung werden Impfstoffhersteller von der European Medicines Agency regelmäßig zur Durchführung von Phase-IV-Studien verpflichtet, um seltene Nebenwirkungen zu erfassen. Es gibt keinen wissenschaftlich belegten Zusammenhang zwischen Impfungen und Erkrankungen wie Autismus oder Multipler Sklerose. Aktuelle Studien zeigen vielmehr, dass zeitgerechte Impfungen Allergien eher verhindern als auslösen.
Frühere Bedenken über einen möglichen Zusammenhang zwischen Impfungen und plötzlichem Kindstod (Sudden Infant Death Syndrome, SIDS) wurden ebenfalls entkräftet. Umfangreiche Untersuchungen des Robert Koch-Instituts und Daten des Paul-Ehrlich-Instituts zeigen, dass das Risiko für SIDS durch Impfungen verringert wird.
Obwohl Impfstoffe, wie alle Medizinprodukte, bei genetisch empfänglichen Personen Nebenwirkungen hervorrufen können, bestehen diese meistens aus vorübergehenden lokalen Reaktionen an der Injektionsstelle. Auch Fieberreaktionen, die als Ausdruck der schützenden Immunantwort auftreten, sind nicht ungewöhnlich. Im Vergleich zu den schweren Komplikationen und Begleiterscheinungen von Krankheiten wie Masern ist das Risiko von Gesundheitsschäden durch die Impfung wesentlich geringer.
Mythos 4: Zu viele Impfungen bzw. Kombi-Impfungen überlasten das Immunsystem
Moderne Impfstoffe sind deutlich verträglicher als frühere Varianten, dank der Fortschritte in der Biotechnologie. Diese Fortschritte ermöglichen es, spezifische Antigene eines Mikroorganismus zu identifizieren und zu isolieren, die eine optimale schützende Immunantwort hervorrufen. So enthalten etwa neue Meningokokken-Typ-B-Impfstoffe nur wenige Komponenten und Humanes-Papillomavirus (HPV)-Impfstoffe nur ein Proteinelement aus der Virus-Hülle. Im Vergleich dazu enthielten frühere Ganzkeim-Keuchhustenimpfstoffe Tausende Antigene.
Die heutigen Impfstoffe reduzieren die Anzahl der Antigene, die Säuglingen im ersten Lebensjahr verabreicht werden, erheblich. Zusätzlich wurden Konservierungsstoffe wie Thiomersal aus modernen Impfstoffen entfernt. Auch die Belastung durch in Impfstoffen enthaltene Aluminiumsalze als Adjuvanzien ist geringer als die Aluminiummenge, die wir täglich über Nahrung und Kosmetika aufnehmen.
Zudem ist das menschliche Immunsystem bereits bei Geburt gut entwickelt und passt sich schnell an Umweltbedingungen an. Die Menge an Fremdantigenen, die wir täglich über die Nahrung aufnehmen, übersteigt bei Weitem die Gesamtmenge an Antigenen, die über die Lebenszeit durch Impfungen verabreicht werden.
Mythos 5: Impfungen sind für Autoimmunerkrankungen verantwortlich
Die Frage, ob Impfstoffe zur Entwicklung von Autoimmunerkrankungen beitragen können, wird intensiv erforscht. Derzeit sind die Ursachen von Autoimmunerkrankungen nicht vollständig geklärt, und es wird angenommen, dass neben genetischer Prädisposition auch Umweltfaktoren, einschließlich Infektionen, eine Rolle spielen könnten. Da Impfstoffe das Immunsystem ähnlich wie natürliche Infektionserreger aktivieren, besteht theoretisch die Möglichkeit, dass Impfungen bei genetisch anfälligen Individuen Autoimmunreaktionen auslösen könnten.
Allerdings gibt es bislang keine schlüssige Evidenz, die einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Impfungen und der Entwicklung von Autoimmunerkrankungen belegt. Die meisten Berichte über mögliche Verbindungen zwischen Impfungen und Autoimmunerkrankungen basieren auf Fallstudien mit niedrigem Evidenzniveau.
Das Konzept des „Autoimmune Syndrome Induced by Additiva“ (ASIA) beschäftigt sich mit Autoimmunerkrankungen, die möglicherweise mit Impfstoffadditiven wie Adjuvanzien und Konservierungsstoffen in Verbindung stehen. Obwohl ASIA in der Fach- und Laienpresse Beachtung fand, bleibt es ein primär theoretisches Konzept und es fehlt an wissenschaftlichen Belegen für einen kausalen Zusammenhang zwischen Impfstoffen und Autoimmunphänomenen.
Bisher keine Evidenz
Bisherige Untersuchungen zur Häufigkeit von Autoimmunerkrankungen in geimpften im Vergleich zu ungeimpften Populationen zeigen kein erhöhtes Risiko für solche Erkrankungen in Verbindung mit Impfungen. Die Möglichkeit eines Zusammenhangs bleibt theoretisch bestehen, aber aktuell gibt es keine überzeugenden Beweise, die darauf hindeuten.
Mythos 6: Impfungen führen zu Autismus
Der Mythos, dass Impfungen zu Autismus führen, ist falsch. Er beruht hauptsächlich auf einer inzwischen widerlegten Studie von Andrew Wakefield aus dem Jahr 1998. Wakefield behauptete, einen Zusammenhang zwischen der Masern-Mumps-Röteln-Impfung (MMR) und Autismus gefunden zu haben, basierend auf einer sehr kleinen Stichprobe von nur acht Patienten. Die Studie erregte große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und führte zu einem Vertrauensverlust in die MMR-Impfung, was in einigen Ländern zu Masernausbrüchen mit hohen Komplikations- und Sterbezahlen führte.
Spätere Überprüfungen der Studie zeigten erhebliche methodische Mängel und Interessenkonflikte auf. Die Ergebnisse wurden von der Zeitschrift Lancet im Jahr 2010 vollständig zurückgezogen. Wakefield verlor seine ärztliche Zulassung in Großbritannien.
Umfangreiche epidemiologische Studien und Metaanalysen, die Daten von Millionen von Kindern untersuchten, fanden keinen Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und Autismus. Auch der vermutete Zusammenhang zwischen Impfstoffkonservierungsstoffen wie Thiomersal und Autismus konnte nicht bestätigt werden.
Die Behauptung, MMR-Impfungen würden Autismus verursachen, bleibt ein Mythos, der das Impfwesen und insbesondere die Bemühungen um die weltweite Maserneradikation über Jahre hinweg negativ beeinflusst hat.
Mythos 7: Schwangere sollten nicht geimpft werden
Früher wurden Impfungen während der Schwangerschaft aufgrund unzureichender Daten vorsichtig eingesetzt.
Neuere Studien bestätigen jedoch, dass Totimpfstoffe zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft sicher sind. Diese Impfungen schützen vor Krankheiten wie Influenza, Tetanus und Keuchhusten, die sowohl für das ungeborene Kind als auch die Mutter riskant sein können.
Lebendimpfstoffe sind zwar während der Schwangerschaft im Allgemeinen kontraindiziert, versehentliche Impfungen haben sich jedoch als risikoarm erwiesen.
Merke: Die Influenza- und die Diphtherie-Tetanus-azellulärer-Pertussis-Impfung werden speziell für Schwangere empfohlen, um sowohl die Mutter als auch das Neugeborene zu schützen.
Mythos 8: Jenner hat das moderne Impfwesen aufgrund der Beobachtung von Milchmägden entwickelt
Edward Jenner revolutionierte 1796 die Medizin, indem er einen Jungen mit Kuhpocken impfte und so die Immunität gegen Pocken demonstrierte. Die verbreitete Geschichte, dass er die Idee durch Beobachtung von Milchmägden entwickelte, ist ein Mythos. Jenner nutzte viel mehr Erkenntnisse, die schon damals bekannt waren: Menschen, die an Kuhpocken erkrankt waren, zeigten eine Immunität gegen Pocken. Sein Experiment war zur damaligen Zeit ethisch vertretbar und basierte auf den medizinischen Standards und Praktiken. Jenners wesentlicher Beitrag war die Anwendung dieser Beobachtungen zur Entwicklung einer Impfmethode, die letztlich zur Ausrottung der Pocken führte.
Weiterführende Informationen:
Zepp, F. Impfmythen in der Pädiatrie. Monatsschrift Kinderheilkunde 166, 1114–1119 (2018)