11.4 Antibiotika

27.06.2024


Mythos Nr. 1: Penicillinallergie
Etwa 10–20% der Allgemeinbevölkerung glauben, allergisch auf Penicillin zu reagieren. Überraschenderweise stellt sich jedoch heraus, dass über 90% dieser Personen Penicillin ohne Probleme vertragen.
Eine britische Studie (Abrams et al., 2016) analysierte retrospektiv über 300 Kinder mit ärztlich diagnostizierter Penicillinallergie und fand heraus, dass nach eingehender Testung und Provokation nur 0,7 % der Kinder, also nur 2 von ihnen, tatsächlich eine Typ-1-Reaktion auf Penicillin zeigten.

Vermutet man eine Penicillinallergie, ist eine gründliche Anamnese notwendig, bei konkretem Verdacht sollte eine gezielte medizinische Abklärung erfolgen.

Merke: Insbesondere bei Kindern ist eine echte Penicillinallergie sehr selten.

Mythos Nr. 2: Die Packung muss bis zu Ende genommen werden. Sonst gibt es Resistenzen!
Es ist korrekt, dass bakterielle Infektionskrankheiten ausreichend lange behandelt werden müssen, um Therapieversagen oder Rückfälle zu vermeiden. Allerdings ist die genaue Behandlungsdauer für bestimmte Infektionen oft eine komplexe Fragestellung.

Wenn keine bakterielle Infektion vorliegt, führt das vorzeitige Beenden einer Antibiotikatherapie nicht zu Therapiemisserfolgen, da es keine zu behandelnden Bakterien gibt.

Wichtig: Das Absetzen der Antibiotika trägt nicht zur Resistenzentwicklung bei, wenn keine bakterielle Infektion vorgelegen ist. Tatsächlich können unnötig verabreichte Antibiotika eher schädlich sein.

Die Resistenzentwicklung wird durch den Selektionsdruck gefördert, den Antibiotika auf Bakterienpopulationen ausüben. Je länger und häufiger Bakterien Antibiotika ausgesetzt sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich resistente Stämme entwickeln. Daher ist es entscheidend, Antibiotika nur dann einzusetzen, wenn eine bakterielle Infektion tatsächlich vorliegt, und die Behandlungsdauer so anzupassen, dass sie effektiv, aber nicht übermäßig lang ist.

Mythos Nr. 3: Penizillin verhindert die Entstehung des rheumatischen Fiebers
Seit vielen Jahren wird angenommen, dass man eine Tonsillopharyngitis, die durch Gruppe-A-Streptokokken bedingt ist, mit Penizillin behandeln muss, um die Entwicklung von akutem rheumatischem Fieber zu verhindern. Diese Annahme führte zu einer häufigen Verschreibung von Antibiotika bei Halsschmerzen. Diese Praxis basiert jedoch auf einer Studie aus den 1950er-Jahren, in der Procain-Penicillin zur Bekämpfung von rheumatischem Fieber in einer spezifischen Ausbruchssituation eingesetzt wurde, ohne dass orales Penizillin verwendet wurde.

Es gibt keinen eindeutigen Beweis, dass orales Penizillin (oder ein anderes Antibiotikum) bei Tonsillopharyngitis durch Gruppe-A-Streptokokken rheumatisches Fieber verhindert, besonders außerhalb von Ausbruchssituationen.
Aktuelle Leitlinien sehen daher in der alleinigen Verhinderung von rheumatischem Fieber keine ausreichende Begründung mehr für die Verwendung von Antibiotika bei Tonsillopharyngitis oder Halsschmerzen.

Mythos Nr. 4: Die Behandlungsdauer der Streptokokkenangina muss 10 Tage betragen
Nach Ausbrüchen von Gruppe-A-Streptokokken-Infektionen an einer US-Luftwaffenbasis in den 1950ern führte eine Studie zu der Empfehlung, orales Penizillin für 10 Tage zur Eliminierung der Bakterien zu verabreichen. Diese Empfehlung basierte auf der Beobachtung, dass eine 10-tägige Behandlung die Trägerrate von Streptokokken im Rachen am effektivsten senkte. Diese Zehntagesregel wurde dann nicht nur für die Behandlung von Streptokokken-Infektionen, sondern auch für andere Krankheiten übernommen, obwohl es dafür keine weiteren bestätigenden Studien gab. In einem Artikel im „The Pediatric Infectious Disease Journal“ wird argumentiert, dass diese Präferenz für eine 10-tägige Behandlung möglicherweise mehr auf historischen und kulturellen Faktoren als auf soliden wissenschaftlichen Beweisen beruht.

Mythos Nr. 5: Die klinische Neugeborenen-Sepsis
Die Neugeborenen-Sepsis ist eine der gefährlichsten Infektionskrankheiten, weshalb häufig vorsorglich Antibiotika eingesetzt werden. Es wird geschätzt, dass für jedes Neugeborene mit tatsächlicher Sepsis mehr als 40 Neugeborene unnötigerweise antibiotisch behandelt werden.
Der Goldstandard für die Diagnose ist die Blutkultur. Häufig herrscht jedoch Misstrauen gegenüber negativen Befunden, was zu einer übermäßigen und oft unnötigen Verlängerung der Antibiotikatherapie führt.
Studien zeigen, dass eine 36- bis 48-stündige Antibiotikatherapie meist ausreichend ist, wenn die Blutkultur negativ bleibt und das Neugeborene klinisch stabil ist. Trotzdem werden viele Neugeborene oft 5–10 Tage behandelt, auch wenn sie keine Anzeichen einer anhaltenden Infektion zeigen.

Weiterführende Informationen:

Berner, R. Mythen in der pädiatrischen Infektiologie. Monatsschrift Kinderheilkunde 166, 1111–1113 (2018)