Viele Eltern kennen die Situation, dass ihr Baby trotz verschiedener Bemühungen wie Wiegen, Stillen oder Spazierengehen weiter weint. Die Gründe hierfür sind oft unklar. In solchen Fällen könnte ein Osteopath ein „Geburtstrauma“ als Ursache sehen und auf die möglicherweise herausfordernden Bedingungen der Geburt, wie schnelle oder langsame Entbindung, den Einsatz von Geburtszangen oder Kaiserschnitt, hinweisen. Die Geburt an sich ist eine stressige Erfahrung.
In Geburtsvorbereitungskursen wird gelegentlich die Kinder-Osteopathie als sanfte Behandlungsform vorgeschlagen, auch Hebammen können sie empfehlen.
Historisches
Um diese Therapieform zu verstehen, ist es hilfreich, ihre Grundlagen zu kennen: Die Osteopathie wurde im Jahr 1874 von dem amerikanischen Arzt Andrew Taylor Still entwickelt. Stills Ansatz basierte auf der Idee, dass gesundheitliche Probleme aus physischen Einschränkungen („Läsionen“ oder „Blockaden“) resultieren, die manuell gelöst werden müssen, um einen harmonischen Blutfluss und die Entfernung von Schadstoffen zu ermöglichen.
Still glaubte, dass diese Probleme hauptsächlich durch Fehlstellungen des Skeletts oder Fehllagen von Organen verursacht würden, die mit den Händen korrigiert werden könnten. Durch sanften Druck sollten Wirbel, Knochen, Muskeln und andere Körperteile behandelt werden, um die Selbstheilungskräfte des Körpers zu aktivieren und zu stärken. Diese Methode wird angewendet, um Schmerzen zu lindern und die Genesung zu fördern.
Bestreben nach Evidenz
In jüngerer Zeit gibt es Bestrebungen in der Osteopathie, sich von esoterischen Ideen zu distanzieren und die Methode auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zu begründen. Besonders interessant sind Forschungen im psychosozialen und psychosomatischen Bereich. Dies ist ein wichtiger Schritt in Richtung der Prinzipien der evidenzbasierten Medizin. Eine Beurteilung des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer aus dem Jahr 2009 zeigt jedoch, dass diese Bemühungen aufgrund des Mangels einer einheitlichen Definition osteopathischer Verfahren komplex sind. Dies erschwert die Belegung der Wirksamkeit der Methode anhand internationaler Studien.
Die Diskussion um Blockaden in der Osteopathie ist komplex, da sie verschiedene Interpretationen beinhaltet. Einerseits gibt es tatsächlich nachweisbare physische Blockaden, wie verkrampfte Muskeln. Andererseits werden in manchen osteopathischen Ansätzen auch weniger greifbare Konzepte wie gestaute Energien oder Schwingungen in Knochen thematisiert, die jedoch wissenschaftlich umstritten sind und von manchen als zu esoterisch angesehen werden.
Bereiche der Osteopathie
Die Osteopathie lässt sich grob in drei Hauptbereiche unterteilen: die manuelle, viszerale und kraniosakrale Osteopathie. Während die manuelle Osteopathie auf einer anatomisch-rationalen Basis steht, werden die viszerale und insbesondere die kraniosakrale Osteopathie als zunehmend spekulativ angesehen. Diese Unterformen basieren auf Konzepten von inneren Blockaden, die jedoch wissenschaftlich nicht nachgewiesen sind und sich auch nicht mit dem aktuellen Verständnis von Krankheitsprozessen und Funktionsstörungen decken. Zudem korrespondieren sie nicht mit international anerkannten Diagnosekriterien für Krankheiten.
Daher ist die Evidenz für die Wirksamkeit, vorwiegend der viszeralen und kraniosakralen Osteopathie, begrenzt. Dies gilt insbesondere bei der Anwendung an Kindern, da es wenig bis keine Beweise dafür gibt, dass diese spezifischen Formen der Osteopathie wirksam sind.
Studien in der Osteopathie
Die Webseite kinderdok.blog beschäftigte sich mit der Auswertung der umfangreichen Sammlung von 178 Studien, Vorträgen, Beobachtungen und Einzelfallberichten, die von der Akademie für Osteopathie auf ihrer Website zusammengestellt wurde. Dabei lag der Fokus besonders auf den Arbeiten, die einen direkten Bezug zur Pädiatrie hatten und die Anwendung der Osteopathie in verschiedenen Bereichen der Kindermedizin untersuchten, wie ADHS, Hüftreifung bei Säuglingen, Schluckstörungen bei Säuglingen, auditive Wahrnehmungsstörungen, Dreimonatskoliken, Säuglingsasymmetrien einschließlich kongenitalem Torticollis, Neurodermitis, Lese-Rechtschreib-Schwäche, Tränengangsstenose, Icterus neonatorum, Wachstumsschmerzen, Adipositas, Schlafstörungen, Asthma, Rechenschwäche und Nasenbluten. Besonderes Interesse galt dem Studiendesign, den Fallzahlen und den Ergebnissen.
Auffallend ist, dass
- die Mehrheit der Studien in Zeitschriften veröffentlicht wurde, die sich auf Osteopathie oder alternative Medizin spezialisieren, während Veröffentlichungen in anerkannten Fachjournalen selten waren. Dies könnte auf strengere Publikationskriterien in letzteren zurückzuführen sein.
- methodische Mängel in etlichen Untersuchungen nachweisbar sind:
- Viele Studien wurden ohne Kontrollgruppen durchgeführt und dennoch veröffentlicht.
- Ein verbreitetes Vorgehen war die Befragung von Eltern durch Osteopathen nach der Behandlung ihrer Kinder, was dann als „Prä-Post-Studie“ bezeichnet wurde.
- In anderen Fällen fehlte die Randomisierung oder es gab zwar eine Kontrollgruppe, die keine osteopathische Behandlung erhielt, jedoch waren die Bedingungen der alternativen Behandlung unklar.
- Zudem wurden die Diagnosen häufig von den Osteopathen selbst gestellt.
Die ideale Studie
Eine ideale Studie wäre eine doppelblinde Untersuchung, bei der weder die behandelnde Person noch der Patient weiß, ob eine osteopathische Behandlung stattfindet. Da osteopathische Verfahren jedoch intensiven körperlichen Kontakt erfordern, ist dies schwierig umzusetzen.
Eine mögliche Alternative wäre eine Studie mit drei Gruppen: a) echte Osteopathie, b) Pseudoosteopathie und c) keine Behandlung. Ein ähnlicher Ansatz wurde bereits in der Akupunkturforschung verfolgt. Es zeigte sich, dass echte Akupunktur nicht wirksamer als Pseudoakupunktur ist, was auf den Placeboeffekt der Behandlung hindeutet.
Studienergebnisse
Bei der genaueren Analyse der von der Akademie für Osteopathie gelisteten Studien, auch wenn diese methodische Schwächen aufwiesen, konnte keine signifikante Verbesserung in der Behandlung verschiedener Erkrankungen und Zustände durch Osteopathie festgestellt werden. Zu diesen Indikationen gehören Hüftreifungsstörungen bei Säuglingen, kongenitaler Torticollis, Lese-Rechtschreib-Schwäche, Tränengangsstenosen, Ikterus, Adipositas, Wirbelsäulenfehlhaltungen bei älteren Kindern und Kreuzschmerzen. Obwohl es keine Evidenz für eine Wirksamkeit gibt, führen viele Osteopathen diese Indikationen weiterhin auf.
In Studien, die positive Effekte zeigten, waren oft sehr kleine Fallzahlen oder eine unzureichend definierte oder fehlende Kontrollgruppe festzustellen. Zwei exemplarische Studien zur Säuglingsasymmetrie zeigen, dass es keine Besserung in einer der Gruppen gab. In einer Studie von 2009 wurden die Verumgruppe (n=27) sowohl osteopathisch als auch mit Vojta-Gymnastik behandelt, während die Kontrollgruppe (n=28) lediglich nach Vojta behandelt wurde. Eine weitere Studie aus dem Jahr 2016 mit ähnlicher Fallzahl (30 vs. 29) zeigte eine Besserung bei 30% der ausschließlich osteopathisch behandelten Gruppe im Vergleich zu 15% in der physiotherapeutisch behandelten Gruppe.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen Studien lag im Untersuchungsansatz: In der Studie von 2009 erfolgte die primäre Untersuchung durch Pädiater, während in der Studie von 2016 die Untersuchung hauptsächlich von einem Osteopathen durchgeführt wurde. Dies könnte zu unterschiedlichen Bewertungskriterien geführt haben.
In der wissenschaftlichen Literatur gibt es auch Übersichtsarbeiten (Reviews) zur Effektivität der Osteopathie. Posadzki et al. (2013) haben zahlreiche Mängel in vorhandenen Studien identifiziert. Sie konnten jedoch 17 Arbeiten identifizieren, die randomisiert und somit methodisch solider waren. Von diesen wiesen nur fünf eine hohe Qualität auf und lediglich eine dieser Studien zeigte signifikante Verbesserungen nach osteopathischer Behandlung. Die anderen vier Studien ergaben keine signifikanten Veränderungen.
Eine weitere Überprüfung von Carnes et al. (2017), veröffentlicht im British Medical Journal, untersuchte den Einfluss der Osteopathie auf Dreimonatskoliken bei Säuglingen. Die Autoren stellten fest, dass nur geringe Effekte zu verzeichnen waren und dass bei Verbesserung der Verblindungsmethoden keine Veränderungen in den Effekten mehr feststellbar waren.
Lanaro et al. (2017) haben fünf randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) ausgewertet und eine Verkürzung der stationären Liegedauer bei Frühgeborenen unter osteopathischer Behandlung festgestellt. Allerdings wurde ihr Review kritisiert, da das verwendete Auswertungsmodell Mängel aufwies, was möglicherweise zu nicht signifikanten Ergebnissen geführt haben könnte, wenn es korrekt angewendet worden wäre.
Fazit
Wie bei anderen alternativmedizinischen Methoden zeigt sich auch bei der Osteopathie, dass mit steigender Studienqualität und besserer Verblindung der Unterschied zwischen der Behandlungs- (Verum-) und der Kontrollgruppe geringer wird. Methoden wie Akupunktur oder Osteopathie, die durch ihre sanfte und körpernahe Anwendung gekennzeichnet sind, neigen zu einem hohen Placeboeffekt. Dieser Effekt wird verstärkt durch den Leidensdruck und die Erwartung der Eltern sowie die Empfehlungen von Hebammen und einigen Kinderärzten.
Es gibt keine Belege für sogenannte Geburtstraumata im osteopathischen Sinne. Ebenso ist das oft zitierte KISS-Syndrom, eine angebliche kopfgelenkinduzierte Symmetriestörung, die in der Osteopathie aufkam, nicht wissenschaftlich fundiert und gilt als erfundene Diagnose.
Typische Verhaltensweisen und Zustände wie Unruhe, eine ungleichmäßige Kopfform, Schreien, Trinkvorlieben, Spucken, Sabbern oder kurze Schlafphasen sind normal im Leben eines Babys und in der Regel kein Grund zur Sorge. Die Annahme, dass diese Zustände behandlungsbedürftig seien, kann entweder auf gut gemeinter, aber uninformierter Sorge beruhen oder darauf, dass jemand aus dieser herausfordernden Phase der frühen Kindheit finanziellen Nutzen ziehen möchte. Die Pathologisierung normaler und häufig auftretender Zustände ist ein Problem, das nicht nur in der Osteopathie auftritt.
Weiterführende Informationen:
Podcast: Quarks Science Cops Folge 27 – Die Akte Osteopathie: Heilen mit den Händen?