11.6 Stillen

27.06.2024


Säugen durch Tiere
In der klassischen Mythologie und in der Geschichte gibt es zahlreiche Berichte über das Säugen von menschlichen Säuglingen durch Tiere. Ein berühmtes Beispiel aus der römischen Mythologie sind die Zwillinge Romulus und Remus, die Gründer von Rom, die der Legende nach von einer Wölfin gesäugt wurden. In der griechischen Mythologie gibt es die Geschichte von Amaltheia, einer Nymphe, die den Gott Zeus mit Ziegenmilch aufzog.

In Europa wurde in den Findelhäusern des 18. und 19. Jahrhunderts tatsächlich der Einsatz von Tieren wie Ziegen und Eseln praktiziert, um dort lebende Kinder zu ernähren. Selbst das 1909 in Berlin eröffnete Kaiserin-Auguste-Victoria-Haus zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit verfügte bis in die 1920er-Jahre über Ställe für Kühe, Eselstuten und Ziegen. Diese Praxis des Stillens bzw. Säugens zwischen Menschen und anderen Spezies wurde in verschiedenen Kulturen und Epochen ausgeübt. Frauen stillten junge Tiere, umgekehrt dienten Tiere als Ersatz für menschliche Ammen, insbesondere nachdem das Risiko der Übertragung von Krankheiten wie Syphilis durch das Stillen bekannt wurde.

Wie die Milchstraße zu ihrem Namen kam
In der antiken griechischen Mythologie wurde das Phänomen der Milchstraße mit der Geschichte von Herkules, dem Sohn des Zeus und der Alkmene, erklärt. Die Sage erzählt, dass der Säugling Herkules so stark an der Brust seiner Mutter saugte, dass die Milch in hohem Bogen zum Himmel spritzte. Diese Milch bildete dann den „Milchkreis“ oder die Milchstraße, bekannt als Kiklos Galaxias auf Griechisch. Die Römer erzählten eine ähnliche Geschichte, allerdings mit den Namen ihrer eigenen Götter.

Mutter-Kind-Beziehung
Die Vorstellung von Mutterschaft und der Mutter-Kind-Beziehung, wie wir sie heute kennen, hat sich erst im Laufe der Zeit entwickelt, hauptsächlich ab dem 18. Jahrhundert. In früheren Zeiten wurden Eltern oft dazu angehalten, sich ihren Kindern gegenüber kühl und reserviert zu verhalten. Eine zärtliche Beziehung zwischen Mutter und Kind wurde teilweise kritisch gesehen. In der Schrift „De institutione feminae christianae“ aus dem Jahr 1542 hieß es: „(…) daher verderben die Mütter ihre Kinder, wenn sie sie mit Wollust stillen.“

In der damaligen Gesellschaft wurde das Stillen durch die Mutter zwar akzeptiert, sollte jedoch kein Vergnügen bereiten. Eine enge physische Beziehung zwischen Mutter und Kind galt als potenzielle Quelle schlechter Erziehung. Wenn eine Mutter ihr Kind selbst stillte, wurde dies oft als Zeichen interpretiert, dass sie nicht zur höheren Gesellschaft gehörte. Im 17. und 18. Jahrhundert war es üblich, dass Mütter eher am gesellschaftlichen Leben teilnahmen, anstatt sich ihren Kindern „zu opfern“. Es gab auch die Ansicht, dass das Stillen dem Körper der Frau schadet, insbesondere die Brust verunstaltet, weshalb viele Frauen es vorzogen, ihre körperlichen Reize bei gesellschaftlichen Anlässen zur Schau zu stellen. Diese historischen Perspektiven zeigen, wie sich das Verständnis von Mutterschaft und der Beziehung zwischen Mutter und Kind über die Zeit hinweg gewandelt hat.

Ammen als Berufsstand
Bis ins 19. Jahrhundert wurden fast alle Säuglinge gestillt. Oft übernahmen Ammen das Stillen. Es entwickelte sich ein regelrechter Markt für Ammen. Regionale Präferenzen waren dabei üblich, z.B. wurden in Süddeutschland Ammen aus Böhmen bevorzugt oder in Berlin Ammen aus dem Spreewald, nachdem eine Spreewälder Amme die Kinder von Kaiser Wilhelm II. genährt hatte. 
In einigen europäischen Regionen erhielten Säuglinge jedoch bereits seit dem späten Mittelalter keine Muttermilch, sondern Tiermilch oder Brei. Trotz der höheren Säuglingssterblichkeit bei nicht gestillten Kindern blieb diese Praxis bestehen. Mit dem Aufkommen industriell hergestellter Babynahrung im frühen 20. Jahrhundert und dem Rückgang lediger Mütter als Ammen verschob sich der Fokus zunehmend auf das Sammeln und die Verwendung überschüssiger Muttermilch in Kliniken.

Weiterführende Informationen:
Die Vorteile des Stillens sowie weitere allgemeine Informationen und häufige Fragen zu diesem Thema werden im Kapitel Ernährung behandelt.

Whybra-Trümpler, C., Wiechers, C. & Mildenberger, E. Mythen und „Ammenmärchen“ zum Thema Stillen. Monatsschrift Kinderheilkunde 166, 1082–1086 (2018)